Die engültige Fassung des Textes findet sich bei Heise Online unter dem folgenden Link: Missing Link: Von künstlicher Intelligenz und künstlich intelligentem Lernen

Ein riesen Dank dem BWKI und der Heise online Redaktion für die Möglichkeit & viel Spaß beim Lesen!

Für die meisten Studierenden ist es zwei Mal im Jahr der Fall: Prüfungsphase. Sechs Monate Lernaufwand kompakt in zwei Wochen voller Leistungserhebungen komprimiert, möglichst viel sich in letzter Sekunde beibringen und dann kurz darauf zumeist auf Papier bringen. Immer mehr nimmt dabei auch die omnipräsente künstliche Intelligenz Einfluss auf die Art, wie und was gelernt wird. Ein Erfahrungsbericht über das Studieren in Zeiten der schier allwissenden künstlichen Intelligenz aus Sicht eines Studierenden.

Fast genau 10 Jahre ist es her, dass die Altbundeskanzlerin Angela Merkel mit der Aussage “Das Internet ist für uns alle Neuland” zu Stirnrunzeln (insbesondere in der jungen Gemeinschaft) geführt hat, denn die Erfindung des Internets war zu dem Zeitpunkt der Aussage bereits weit mehr 20 Jahre in der Vergangenheit, die Dotcom-Blase gute 15 Jahre. Das Internet hat damals zweifellos ganz neue Möglichkeiten und Probleme in der Bildung erzeugt. Es hat nicht disruptiv verändert wie wir lernen, sondern eine Evolution mit neuen Medienformen und Lernmethoden mit sich gebracht, Bildung wurde an vielen Stellen zugänglicher: Ohne mal mehr, mal weniger gut funktionierende Lernmangement-Systeme wie Moodle wäre die Corona-Zeit wohl noch viel destruktiver für die Bildung verlaufen als sie sowieso schon war.

 

Und keine Frage: Auch das Buzzwort-Lastige Thema “künstliche Intelligenz” (wobei meist “KI” nur auf das Subthema der Chatbots wie ChatGPT heruntergebrochen wird, mit diesen beschäftige ich mich hier vorrangig in diesem Beitrag auch) bringt Chancen und Herausforderungen mit sich, welche Punkte wie überliegen soll hier aber erstmal ausgeklammert werden – denn Fakt ist: Chatbots sind in unserem Alltag angekommen.

Für uns Studierende bedeutet das an vielen Stellen, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Egal, ob die Dozierenden und Professoren den Einsatz von Hilfsmitteln wie Chatbots in Ihren Veranstaltungen aktiv mit einplanen, untersagen oder noch dieselben Transparente über den Tageslichtprojektor schieben wie vor zwölf Jahren, am Ende wird von Studierendenseite irgendwo künstliche Intelligenz zum Erweitern, Erleichtern oder Variieren von Aufgaben verwendet. Und dies passiert – so zumindest aus meiner Erfahrung – in der gesamten Studierendenschaft: Egal welche Muttersprache und technische Vorerfahrung, die Möglichkeiten und Zugangsmethoden sind bei allen und in jedem Fach angekommen.

Schwieriger wird es dann schon, wenn es darum geht, einschätzen zu können, ob der Einsatz von einem Chatbot in den jeweiligen Fächern zu hilfreichen Ergebnissen führt oder nicht. Denn während das Erklären des Prinzips der Emissionsspektroskopie in der experimentellen Physik auch in etwaigen anderen Muttersprachen als Deutsch und Englisch und bei Rückfragen gut klappt, wird es doch im Vorrechnen von Aufgaben der höheren Mathematik selbst in den Sprachen mit großem Trainingswortschatz der Chatbots wie Englisch und Deutsch auf einmal die fachliche Tiefe schnell sehr dünn. Zu dünn zum Geben von richtigen Antworten auf Nachfragen, zu dünn zum Heranziehen als einzige Lernmethode für Prüfungen. Genau letzteres passiert aber häufig – dass der Begriff “Korrektheit” allgemein im Bereich der KI mit einer substanziellen Unschärfe verbunden ist, wird vielen zwischen allen “KI-Schlagzeilen”, welche den einen Erfolg nach dem anderen Darstellen, nicht bewusst. Denn wenn man von Computeralgebrasystemen und Simulationsprogrammen einen erwartbaren Output zu gegebenem Input gewöhnt ist, sind Chatbots nicht unbedingt dafür bekannt, die konstantesten Antworten zu liefern. Kürzliche Beispiele wie die Frage, ob 9,11 oder 9,9 größer ist, was von ChatGPT vehement mit “Klar, 9,11 ist größer als 9,9!” beantwortet wird, zeigt, dass nicht alles, selbst primitive Fragen wie diese nicht immer richtig sein müssen. Schlimmer noch, es wird eine Argumentationskette erzeugt, die das Falsche mit Kontext ausgeschmückt und so noch weiter glaubhaft macht. Doch diese Nachrichten kommen selten aus der Tech-Blase heraus, der Zug des Hypes fährt noch viel zu laut und verdrängt die Nachrichten der Fehltritte der künstlichen Intelligenzen, der Eindruck von “perfekten” Systemen bleibt bestehen. Ein blindes Vertrauen in die KIs entsteht, und diese Gefahr wird in der Hochschulbildung bislang nicht oder nur minimal beleuchtet. 

Es scheint eine Art Schockstarre zu geben, in der entweder davon ausgegangen wird, dass die Studierenden ChatGPT und Konsorten nicht verwenden, oder wenn sie damit umgehen, dass sie das Thema der KIs so gut durchdrungen haben, dass die keinerlei Hilfe bei der Einordnung der Ergebnisse benötigen. Doch falsch gedacht: Viele Studierende nehmen das, was KIs generieren, eins zu eins für bare Münze, wie auch das Bayerische Forschungsinstitut für digitale Transformation in einer Analyse nachweisen konnte.

Es braucht Raum zum Umdenken

Aber sicher, ein neues Fach nur zum Umgang mit KI einzuführen, auch nicht zielbringend: Viel hilfreicher wären konkrete Beispiele in den Vorlesungen der Fächer, wie KI richtig eingesetzt werden kann – das, was mit Tutorien für die Anwendung des in Vorlesungen erlernten Stoffs erreicht werden soll, gehört fortan auch zusätzlich den fachspezifischen Umgang mit künstlicher Intelligenz in dem entsprechenden Thema kurz beleuchtet werden. Nicht jede Woche drei Stunden, sondern eine Notiz, zum Beispiel “passen Sie auf, ein Chatbot kann keine korrekten Freikörperbilder zeichnen” würde vielen unmittelbar helfen. Denn eingesetzt wird die KI sowieso – nur dann mit mehr Kontext, als wenn das (wie aktuell) weiter im Hinterzimmer passiert. Am Ende bleibt künstliche Intelligenz Matrixmultiplikation – und nicht Magie, wie viele es aktuell wahrnehmen und mit dieser Einstellung verwenden.

Man könnte zu diesem alles nun das Argument anführen, dass man von Studenten auf der höchsten Laufbahn im deutschen Bildungssystem erwarten kann, dass sie eine solche Einschätzung zu den Risiken selbst treffen können (“Unwissenheit schützt vor Strafe nicht”). Doch diese Einschätzung zu Gefahren kann nur entstehen, wenn ein Raum für eine Diskussion geöffnet wird, fernab von Schlagzeilen und Kurzvideos mit KI-Stimme, die in 15 Sekunden die “Killer-Prompt für PERFEKTE stöchiometrische Rechnungen” und die Sterne vom Himmel versprechen. Der Wille, über KI zu reden, ist von Studierendenseite vorhanden, jetzt braucht es nur noch die Möglichkeit, dies ohne der Gefahr vor Konsequenzen und Einschüchterung machen zu können.

Die gelegentliche Aussage mancher Dozenten “wer ChatGPT im Rahmen dieser Veranstaltung nutzt, fliegt raus” ist da wenig zielführend, genau so wenig wie das Mantra “in der Zukunft sind sie (die Studierenden) sowieso dank der KI Arbeitslos, also warum strengen Sie sich überhaupt an?”. Wie schon Prof. Dr. Jörn Loviscach in seinem Missing-Link-Artikel vollkommen zu rechtRecht festgestellt hat: “Technik und Materialien” reichen nicht, um erfolgreich zu lernen. Es braucht auch Raum zum Austausch und Möglichkeiten der unbewerteten Anwendung, ebendies, was Tutorien an jeder technischen Hochschule seit Jahrzehnten bereits zum Klären von offenen Fragen und für die Prüfungsvorbereitung bewerkstelligen.

Was ist noch Leistung, wenn eine KI meine Konstruktionsarbeit selbstständig erledigt?

Manche Hochschulen passen sich derweil langsam Organisatorisch an die neue Welle von technischen Möglichkeiten an, was mancherorts vor allem in den Geisteswissenschaften zur Einstellung von Haus- und Bachelorarbeiten geführt hat. In diesen Disziplinen, die klassisch viel mit Textproduktion gearbeitet haben, haben die gesprächigen Chatbots also schon erste Änderungen hervorgerufen. Eine Frage der Zeit, bis auch die technischen Studiengänge weniger auf Hausarbeiten und lange Labor- und Abschlussarbeiten setzen können – Autodesk baut einen KI-Assistenten neuerdings direkt in die Hauseigenen CAD-Programme ein, mit Text to CAD gibt es inzwischen sogar schon Ansätze, gesamte Konstruktionswerke von der Handarbeit zu entkoppeln. Wir müssen uns fragen: Wie können in der Zukunft noch Arbeitsproben fair bewertet werden? Sei es das Tragwerk der zukünftigen Bauingineure, die Welle der Maschinenbauer oder der elektische Geschwindigkeitsregler der Elektrotechniker. Aktuell sieht vieles danach aus, als würde diese Frage von den Hochschulen mit der Antwort “mehr Klausuren” beantwortet werden, der wohl einfachsten Antwort auf diese komplexe Frage. Das ist furchtbar schade, denn selten hat es eine bessere Möglichkeit gegeben, alte, bewährte Konzepte (Klausuren, mündliche Prüfungen) mit neueren Ideen (bewertetes Peer-Teaching, Ssokratische Seminare oder Gruppenarbeitenprojekte mit Peer-Review) zu verweben und einen echten Mehrwert für Studierende zu liefern.  

Wir brauchen keine Revolution, sondern eine Evolution der Leistungserhebung, wie auch schon das Internet bringen neue Konzepte weitere Möglichkeiten in das Spielblatt der Hochschulen. Es wird Zeit, diese Karten auch auszuspielen und nicht die siebte Klausur ins zweite Semester zu hängen, weil die sonst über das Semester verteilte Dokumentationsarbeit durch ChatGPT scheinbar sinnlos wurde.

Ein Deja-vue

 

So wie wir Studierende mit Smartphones und dem Internet aufgewachsen sind, wird die Generation, die gerade im jungen Kindesalter sind, mit den Möglichkeiten und Gefahren von KI direkt auf – für uns Studierende, bei denen große Sprachtransformermodelle schlicht nicht existent in der Schulbildung waren, heißt das, einen komplett neuen Umgang mit diesen zu lernen. Dabei kann und muss die Hochschulbildung mithelfen – nicht nur durch den Raum, sich zum sinnvollen Einsatz von Chatbots auszutauschen, sondern auch durch das Bereitstellen von modernen Chatbots. Es kann nicht sein, dass Studierende sich bessere Chatbots erkaufen können und damit einen Vorteil erlangen gegenüber finanziell weniger gut Situierten Studierenden. Und da Chatbots mindestens so viel wie die Bibliothek (wenn nicht sogar mehr!) verwendet werden, ist es nicht zu viel Verlangt, dass ein Teil unserer Semestergebühren für den Zugang zu den modernen Sprachmodellen investiert wird. So wie für uns junge Menschen 2013 die Aussage “Das Internet ist für uns alle Neuland” mit einem gewissen Lächeln aufgenommen wurde, hat sich das Blatt auf einmal gewendet: “Die KI ist für uns alle Neuland” – und bevor wir wie bei dem Breitbandausbau den Anschluss verlieren, lohnt es sich, offen über das Thema zu reden und sinnvolle Räume in der Hochschulbildung zu suchen. Nicht zwanghaft KI in jedes Fach und Thema drücken, sondern Aufzeigen, wie KI uns Studenten helfen kann und wie nicht. Trigonometrie müssen wir auch in Zukunft können, den ausführlichen begleitenden Fließtext zu einem technischen Datenblatt schreiben wohl eher nicht. Und wenn uns KI dabei helfen kann, Trigonometrie zu verstehen, umso besser.