Es war eine tollkühne Idee, die 2017 bei JugendHackt entstand: Mit einer künstlichen Intelligenz Tweets analysieren und diese auf mögliche politische Hintergründe prüfen – nachdem das Projekt dann vier Jahre in der Schublade lag, entstand zur Bundestagswahl 2021 daraus das Projekt Chirpanalytica. Eine Übernahme, zwölf turbolente Monate und mindestens drei dutzend Nachfragen und Hinweise über und nach dem Verschwinden unseres Tools.
Als ich vor nichtmal zwei Jahren einen Blogartikel zu meiner Fahrradtour in Skaninavien verfasste, war ich mir sicher, dass dieser Blog offline gehen würde, bevor Twitter, der Plattform, von der ich einige Tweets in den Artikel eingebaut habe, selbst offline geht. Sicher, dass Twitter „too big to fail“ ist und das die Plattform in seiner Form auf absehbare Zeit sicher sei für den hochgeladenen Content. Doch das Internet bietet immer wieder Überraschungen.
Gerade 30 Tage nach dem Veröffentlichen des rund 72.000 Zeichen langen Blogbeitrags kaufte Elon Musk erste Anteile an dem Kurznachrichtendienst Twitter. Am 14. April 2022 bot Elon Musk dann an, Twitter für 54,20 US-Dollar pro Aktie (insgesamt rund 43 Milliarden US-Dollar) zu kaufen. Darauf folgte erst eine vehemente Abwehreaktion des bestehenden Twitter-Boards auf die Kauf-Absicht des Miliadärs mit mehr kontroversen Ansichten als verkauften Autos, dann die Einsicht seitens des Boards, dass der Preis pro Aktie dermaßen übertrieben sei, dass der Kauf monitär absolut sinnvoll sei mit einem darauf folgenden Gerichtsverfahren, in dem das Board Elon Musk erfolgreich verpflichtete, Twitter für den ursprünglich (und abstrus-hohem Preis) zu kaufen. Die auf den Kauf folgende Zeit war wohl die späktatulär-traurigste, die jemals eine so in der Öffentlichkeit stehende Plattform erlebt hat. Zwischenzeitlich wurde sogar die gesamte Plattform auf „privat“ für nicht-angemeldete Nutzer (z.B. jene, die über diesen Blog die eingebetteten Tweets sehen wollten) geschaltet, sodass meine Hoffnung, das Twitter diesen Blog bei weitem Überdauern würde, nach nichtmal 12 Monaten gebrochen wurde.
Als wir 2017 auf die Idee für Chirpanalytica (damals noch unter dem Namen „Profil-o-Mat“) kamen, waren für uns Jugendliche die goldenen Zeiten auf Twitter: Eine lebhafte Gemeinschaft mit regem Austausch untereinander, Community-Treffen (insbesondere im Rahmen der Jährlichen Gamescom, „komm hinter Halle 8!“) und für den softwarezugeneigten Teil der Twitter-Deutschland-Bubble eine kostenfreie und mächtige API.
Diese war im Vergleich zu 2015, als noch ein öffentlicher Zugang zu Twitter’s „Firehose“ (dem globalen Live-Feed aller Tweets überhaupt) zwar schon etwas zusammengestutzt worden, trotzdem waren großangelegte Datamining-Unterfangen wie der Tweet-Crawler hinter Chirpanalytica an einem Nachmittag gebaut. Chirpanalytica wurde 2017 damit kurz vor der ersten richtigen Twitter-API-Anpassung gebaut, welche knapp neun Monate nach Jugendhackt Frankfurt, dem Entstehungsort des Projektes erstmalig aus dem Betrieb genommen.
Das GitLab-Repository wurde gelöscht, die gesamte Projektdokumentation und die öffentliche Seite vom „Profil-O-Mat“ wurden ebenfalls kurzfristig entfernt. Drei Jahre Funkstille folgten, bis ich mich 2020 mit einer konkreten Forsetzung des Projektes beschäftigte. Ich begann, einen neuen Tweet-Crawler auf der Basis von Wikidata zu entwickeln und suchte dabei Hilfe bei Torben, welcher mich fortan in dem Projekt begleitete. Gemeinsam brachten wir den Profil-O-Mat unter dem neuen Namen „Chirpanalytica“ (angelehnt an den damals noch aktuellen Cambridge-Analytica-Facebook-Skandal) ins Internet und in die Medien. Mit dem Rewrite der Projektidee und der damit verbundenen Adaption der Twitter-API V2 gingen wir schon eine Reihe Kompromisse ein (Rate-Limiting, Search-Depth, noch mehr Rate-Limiting, habe ich schon Rate-Limiting erwähnt?). Und doch schaffte es das Projekt, die Gemüter zu spalten (spannende Twitter-Threads zu der Genauigkeit des Tools folgten zahlreich nach der Veröffentlichung), auch über unsere „Bubble“ hinaus aufsehen zu erregen und vor allem Menschen zum Reden und Nachdenken zu bringen. Zum Nachdenken über den eingenen digitalen Fußabdruck und was alles automatisierte Tools über einen nur durch das Betrachten öffentlicher Daten herausfinden können. Das Projekt schaffte es dann sogar in das Finale des Bundeswettbewerbs Künstliche Intelligenz in Tübingen – dabei war alles in dem Projekt-Rewrite darauf ausgelegt, auch mit weiteren Twitter-Änderungen im Stile der letzen Jahre umgehen zu können. Doch weitere neun Monate später (aus dem off: immer neun Monate!) ging die Geschichte mit der vielleicht schlechtesten finanziellen Entscheidung einer Einzelperson in der letzen Geschichte, eine vielerzählte Story, die ich hier nicht noch weiter auswringen möchte.
Denn mit der feindlichen Übernahme war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Twitter-API, die Chirpanalytica zu nutzen vermochte, gänzlich abgeschaltet werden würde. Und einen Augenblick später, im April 2023, war dann tatsächlich final Schluss mit der public Twitter-API.
Sicher: Man könnte zu Webscraping übergehen und versuchen, damit Chirpanalytica wiederzubeleben, nur damit wieder neun Monate später eine weitere Änderung das Projekt vorerst begräbt. Es ist ein Katze-und-Maus-Spiel, welches die Community mit Twitter (oder inzwischen: 𝕏) umtreibt. Eine Community, welche sich dabei selbst auflöst.
Denn selbst wenn von heute auf morgen die Twitter-API wieder auf den Stand von 2017 gebracht werden würde, eine Sache würde damit nicht wiederkommen: Die Gemeinschaft und die Tweets der Gemeinschaft, die das Werkzeug erst ermöglicht haben. Selbst wenn alles wie in 2017 wäre, die Community hinter dem Projekt wird nie wieder zusammenkommen können. Chirpanalytica wäre ein Projekt ohne Seele. Und das ist furchtbar schade.
Was bleibt
Unterm Strich hatte das Projekt das Glück, zwei mal zur Richtigen Zeit am Leben zu sein und damit zwei voneinander unabhänige Chancen zu bieten, Denkanstöße zu liefern und weitere Projekte zu inspirieren. Zwei Chancen für uns, neue Leute kennenzulernen (was in jedem Fall geklappt hat) und zwei Chancen, auf einer Bühne zwei eigene Hobbies, Twitter und „irgendwas mit Software“ vorstellen zu können.
Es bleiben verschiedene Medienberichte (siehe oben), zwei nun archivierte GitHub-Seiten und ein etwas cringes Video zu der funktionsweise des tools, welches in 15 Minuten vor Abgabeschluss bei einer Twitter-Devchallange aufgenommen wurde:
Profil-O-Mat
*2016
✝2017
Chirpanalytica
*2021
✝2023
Current Opinion on “Von Algorithmen zu Abschieden: Das Ende von Chirpanalytica”